Das «Sopranmodel» kam – und war noch besser als erwartet
Die Diva kann singen! Anna Netrebko gab am Dienstag mit der «Traviata» ihr wunderbares Zürcher Operndebüt.
In den vergangenen Tagen stieg die Temperatur um das Zürcher Opernhaus herum sprungartig an. In den CD-Geschäften fiel immer öfter ihr Name, durch die Medienlandschaft ging ein Raunen, die NZZ zählte die Nächte. Und dann war sie da: Anna Netrebko, Opernstar, «Sopranmodel» oder ganz einfach, die zurzeit bekannteste klassische Sängerin der Welt. Sie war da, und sie war ein wenig anders als erwartet. Gegeben wurde Giuseppe Verdis «Traviata» in der laufenden Inszenierung von Jürgen Flimm mit dem Orchester der Oper (Leitung Marco Armiliato) und dem Gesangsensemble des Hauses. Und dass Anna Netrebko an diesem Abend wohl die einzige Person im gesamten Opernhaus war, der es mehr um die Traviata ging als um die Netrebko, dafür schloss man sie bereits ins Herz.
Die melodramatisch-anrührende Geschichte der Kurtisane Violetta beginnt im glamourösen Paris. Jung ist Violetta, schön und schwindsüchtig. In der ihr verbleibenden Zeit will sie sämtliche Genüsse des Lebens auskosten. Am liebsten tut sie das in ihrem Salon, wo soupiert, getanzt und angebandelt wird und wo sie schillernder Mittelpunkt des Geschehens ist. Eine ideale Kulisse – so denkt man – für den gross inszenierten Auftritt einer jeglichen Operndiva. Auf Récamieren hingegossen, könnte man da singen, wohlgeformt Körperteile in extravaganten Kostümen spazieren führen und sämtliche Allüren in einer einzigen Szene unterbringen.
Doch nichts dergleichen geschah. Anna Netrebkos Violetta ist nachdenklich, beinahe verletzlich schon. Zwar steht sie mitten im Geschehen, aber im Grund genommen noch viel mehr daneben. Und wenn sie trotzdem mal mitsamt dem koketten Blick gleich auch noch das Champagnerglas über die Schulter wirft, so ist das mehr kompensierend exaltierte Geste als überhitzte Ausgelassenheit.
Violettas liebliche Schönheit
Die Sängerin überraschte auch musikalisch. Unerwartet innig bis fragil klangen ihre Phrasen – wohl ganz im Sinne Verdis, dem es darum zu tun war, in seiner Musik statt grossartiger Aktion die seelische Innenwelt der Figuren darzustellen. Was die akustische Nachahmung der Krankheitssymptome anging (die sich der Komponist ausdrücklich verbeten hat), zeigte sich Netrebko ebenfalls undivenhaft stilsicher. Nie liess sie bühnenwirksam naturalistische Huster oder gar ein Röcheln hören.
Und: Anna Netrebko kann singen. Und wie! Von verblüffender Akkuratesse ist ihre Technik, und ihre Stimme behielt stets die ihr eigene, samtene Qualität, ob in den höchsten Tönen oder dem tiefsten Register. Das warme Timbre sowie geschmackvoll eingesetzte Portamenti verliehen den Gesangslinien liebliche Schönheit. Alles andere als eine singende Urgewalt bot sich dem Publikum, und geschmettert wurde erst recht nicht. Ausser ein bisschen vom jugendlich-ungestümen Alfredo, der in unsterblicher Liebe zu Violetta entflammt. Aber Piotr Beczala tat dies mit so unschuldigem Charme, dass man es ihm schlicht nicht übelnehmen mochte.
Alfredos Zuneigung
Alfredo vermag mit seiner aufrichtigen Liebe Violettas Herz zu erobern. Zum ersten Mal wird sie nicht bloss begehrt, sondern erfährt wahre Zuneigung. In trauter Zweisamkeit verbringen die beiden Liebenden den Sommer auf dem Land. Dass dieses Idyll jedoch nicht von Dauer sein kann, gehört zur Grundlage jeder Operndramaturgie. Und schon taucht Alfredos Vater auf und drängt Violetta, seinen Sohn zu verlassen. Lenke sie nicht ein, würde dieser mitsamt seiner Schwester aus der Gesellschaft ausgestossen. Wie Anna Netrebko da im Duett ihre Einsätze mit grösster Behutsamkeit in den Part des Vater Germont (Juan Pons) einflocht, zeigte vollends, dass sie sich keineswegs als solitäres Goldkehlchen, sondern viel mehr als kammermusikalisch sensible Sängerin verstanden haben will.
Annas Mut
Violetta setzt schliesslich alles aufs Spiel: Für die wahre Liebe will sie auf ihr persönliches Wohl verzichten und hofft, dass ihr Opfer einst seine gerechte Belohnung finde. Und auch Anna Netrebko sang ohne Sicherheitsnetz: Statt die musikalische Gestaltung auf der sicheren Seite zu behalten, riskierte sie vom leisesten Pianissimo bis zu halsbrecherisch heiklen Einsätzen alles und nahm durchaus in Kauf, dass sie sich damit auch Blössen gab.
Für Violetta zahlt sich der Mut nicht aus. Der Schmerz verschlimmert ihre Krankheit. Zu spät lenken Alfredo und sein Vater ein, und so stirbt sie in den Armen des Geliebten. Anders bei Anna Netrebko: Durch ihren Mut gelang ihr eine Interpretation, deren persönliche Färbung weit über die sogenannte Authentizität bunt bebilderter Homestorys und Exklusiv-Interviews hinauswies. Die Sängerin bot damit überraschenderweise kein Hochglanz-Grossereignis, aber musikalisch ein grosses Ereignis.
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